Neues Wahlrecht auf dem Prüfstand - WissenschaftsForum diskutiert mit hochkarätigen Gästen
Vor dem Hintergrund der Bundestagswahl 2025 und der geplanten Einsetzung einer Wahlrechtskommission durch die Bundesregierung widmete sich das WissenschaftsForum am 14. Mai der Frage: Hat sich das neue Wahlrecht bewährt – oder braucht es weitere Reformen? Vor rund 200 Zuhörerinnen und Zuhörern diskutierten hochkarätige Fachleute über die jüngsten Änderungen des Bundestagswahlrechts und deren Auswirkungen auf die Demokratie in Deutschland.
Den Auftakt bildete ein einleitender Kurzvortrag von Dr. Sabine Leppek, Präsidentin der HS Bund, die die Veranstaltung mit ihrem Grußwort eröffnete und die politischen Hintergründe der Reform im zeitlichen Verlauf skizzierte.
Es folgten Impulsreferate von zwei prominenten Gästen: Peter Müller, Ministerpräsident des Saarlandes a.D. und Richter am Bundesverfassungsgericht a.D., erläuterte die juristische Perspektive auf das neue Wahlrecht. Er betonte, dass das Ziel der Reform die Begrenzung der Abgeordnetenzahl auf 630 gewesen sei. Müller wies darauf hin, dass das Grundgesetz zwar kein bestimmtes Wahlsystem vorschreibe, die Streichung der Grundmandatsklausel die erste Bewährungsprobe vor dem Bundesverfassungsgericht jedoch nicht bestanden habe und deswegen zur Bundestagswahl wieder aktiviert worden sei. Er betonte weiterhin, dass das neue Erfordernis der Zweitstimmendeckung hingegen zwar für verfassungskonform befunden worden sei, jedoch verfassungspolitisch schwer zu vermitteln sei, da sie für unabhängige Kandidaten keine Anwendung finde. Zur Veranschaulichung führte er das Beispiel an, dass auf einem hinteren Listenplatz platzierte Kandidaten einer Partei u.U. mit sehr großem Stimmenanteil in ihrem Wahlbezirk nicht in den Bundestag einziehen könnten, wenn die erforderliche Deckung mit Zweitstimmen der Gesamtpartei nicht gegeben ist, während gleichzeitig das Fehlen dieses Erfordernisses für Unabhängige ihnen den Einzug auch mit einem viel geringeren Stimmenanteil ermögliche. Die Tatsache, dass das aktuelle Wahlrecht ein reines Verhältniswahlrecht sei, halte er in einer zunehmend segmentierten Gesellschaft für problematisch, da Zweidrittel-Mehrheiten in der politischen Mitte immer schwerer zu erreichen seien. Müller plädierte abschließend für eine große Reform für ein einfaches Wahlrecht, das ein funktionierendes Parlament hervorbringe, anstatt, wie er es ausdrückte, „an kleinen Schrauben zu drehen“.
Professor Dr. Stephan Bröchler, Politikwissenschaftler, gab als Landeswahlleiter (seit 2022) von Berlin und Mitglied der Expertenkommission zur Aufarbeitung des „Berliner Wahldesasters“ von 2021 Einblicke in die praktischen Herausforderungen der Wahlorganisation. Er sprach über die Gründe für das Wahldesaster 2021. Des Weiteren benannte er wichtige Wahlprinzipien der Wahlleitung, darunter ihre Unabhängigkeit, Unparteilichkeit oder Parteiferne und skizzierte in diesem Zusammenhang auch die wissenschaftstheoretische Idee des „sich selbst organisierenden Wahlvolkes“. Anschließend ging er ein auf die aus der Pannenwahl gezogenen Lehren: Einheitliche Standards, bessere Kommunikation zwischen den Wahlbezirken, eine stärkere Sichtbarkeit der Wahlleitung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern sowie gesetzgeberische Maßnahmen zur Verlässlichkeit künftiger Wahlen. Als zentrale Handlungsfelder nannte Bröchler die Verlängerung der 60-Tage-Frist bei vorgezogenen Wahlen, die Klärung der Zukunft der Briefwahl, die Sicherung der Unabhängigkeit der kommunalen Wahlleitungen und die Verbesserung des Kommunikationsmanagements der jeweiligen Wahlleitungen.
In der anschließenden Podiumsdiskussion richteten Gäste aus dem Publikum v.a. Fragen zu den Themen Briefwahl und E-Voting und den konkreten Ursachen für die Pannenwahl in Berlin an die Referenten.
Moderiert wurde die Podiumsdiskussion von Prof. Dr. Sven T. Siefken von der HS Bund, der die Diskussion zwischen den beiden Referenten souverän leitete und auch die zahlreichen Publikumsfragen einbezog. Unter den Gästen fand sich als prominente Teilnehmerin die Leiterin des Büros der Bundeswahlleiterin, Anna-Karina Elbert.
Insgesamt wurde deutlich: Das neue Wahlrecht hat die Feuertaufe bestanden, wirft jedoch neue Fragen auf – etwa hinsichtlich seiner gesellschaftlichen Akzeptanz und der Funktionalität im föderalen Vollzug. Das WissenschaftsForum bot einen wichtigen Rahmen für den fachlichen Austausch zwischen Wissenschaft und Politik mit Bezug zur Verwaltungspraxis.